22 Mai 2009

Der Detektiv und die Saurier

Zum 150. Geburtstag von Arthur Conan Doyle (22. Mai 1859 – 7. Juli 1930)
Seine Gestalt und Erscheinung allein genügten, die Aufmerksamkeit des oberflächlichsten Beobachters zu erregen. Er war mehr als sechs Fuß groß und so ungeheuer hager, daß er noch weit größer wirkte. Seine Augen waren scharf und durchdringend, außer in jenen Zwischenzeiten der Lähmung, die ich erwähnt habe, und seine schmale, falkenhafte Nase verlieh ihm insgesamt den Ausdruck der Wachsamkeit und Entschlossenheit. Auch sein Kinn hatte jene Prominenz und Wucht, die den entscheidungsfreudigen Mann kennzeichnen. (Arthur Conan Doyle: Eine Studie in Scharlachrot. Zitiert nach Michael und Mollie Hardwicks "Mr. Holmes und Dr. Watson – Porträt einer Freundschaft", erschienen in Zeus Weinstein, Das umfassende Sherlock Holmes Handbuch, Kein & Aber 2009)
So beschreibt der kurz zuvor verwundet aus dem Afghanistan-Krieg zurückgekehrte Militärarzt John H. Watson Sherlock Holmes bei ihrer ersten Begegnung, die die meisten Holmesianer auf das Jahr 1881 datieren. Der Anfang nicht nur einer langen Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft zwischen dem Detektiv und seinem Chronisten, sondern auch der Beginn der bis heute andauernden Faszination, die von dieser Figur ausgeht, deren Konturen im Verlauf von 60 veröffentlichten Fällen nicht wesentlich deutlicher hervortreten werden als in dieser ersten Schilderung. Ergänzt werden die wenigen äußerlichen Angaben über Holmes nur noch durch Beschreibungen seiner deduktiven Methode und eine Liste skurriler Charakterzüge: Im Boxsport glänzt Holmes ebenso wie in der Fechtkunst, er lebt viele Jahre in der Baker Street 221B, er raucht gern Pfeife, spielt zur Fokussierung seiner Denkkraft Geige und nimmt während erzwungener Ruhephasen siebenprozentiges Kokain zu sich, er hat einen Bruder namens Mycroft, der angeblich noch brillanter ist als er, und zu den Damen pflegt er ein galantes, aber letztlich gleichgültiges Verhältnis.

Mit biografischen Hintergründen hält sich Arthur Conan Doyle bei der Schilderung der beiden Freunde zurück, einige Angaben sind widersprüchlich. Wahrscheinlich war es genau diese Zurückhaltung in der Ausmalung der familiären Verhältnisse bei einer gleichzeitigen Überfülle an oft skurrilen Details, mit der die Umstände der einzelnen Fälle geschildert wurden, die zu einer fröhlichen Interpretations- und Auslegungsfreude unter Holmesianern geführt hat, die bis heute anhält und sich mit der Methode der Donaldisten vergleichen lässt, die Gangolf Seitz einmal so beschrieben hat: "Wir bevorzugen den sogenannten inneren Donaldismus. Der begreift Carl Barks nicht als historische Person, sondern als unfehlbares Medium eines real existierenden Universums. Seine Worte und Bilder sind nicht gut oder schlecht, sondern wahr."

Sherlock Holmes und Dr. Watson in einer
Strand’s-Illustration von Sidney Paget

Ein schönes Beispiel für inneren Holmesismus ist der Text "Mr. Holmes und Dr. Watson" (s.o.) von Michael und Mollie Hardwick, der die beiden als historische Figuren beschreibt und mit leichter Hand einige strittige und widersprüchliche Angaben klärt. So deduzieren die Hardwicks ganz im Geiste von Holmes, dass er in Sussex aufgewachsen ist, räumen mit dem Gerücht der ihm häufig unterstellten Frauenfeindlichkeit auf und stellen ein für allemal klar, wo die afghanische Feizal-Kugel Watson erwischt hat, der in Eine Studie in Scharlachrot von der Schulter spricht und in Das Zeichen der Vier von seinem Bein: "Wir sind zu dem Schluß gezwungen, daß Watson im Verlauf des Afghanistan-Feldzuges zwei (oder mehr) Kugeln abbekommen und in seiner Tapferkeit eine davon damals für nicht der Erwähnung wert gehalten hat."

Die von Arthur Conan Doyle geschickt angedeuteten Konturen von Sherlock Holmes' Persönlichkeit und seine nach der Veröffentlichung von A Study in Scarlet im Beeton's Christmas Annual von 1887 rasch wachsende Popularität riefen bald Künstler auf den Plan, die dem hageren Phantom eine Gestalt gaben. Für lange Zeit stilbildend waren die Illustrationen von Sidney Paget, die ab 1891 gemeinsam mit Doyles Erzählungen im neu gegründeten Magazin Strand’s erschienen. Pagets hagerer Gentleman mit Pfeife und Deerstalker-Mütze blieb für Jahre der maßgebliche Holmes, bis die amerikanische Zeitschrift Collier’s Weekly ab 1903 die Story-Serie The Return of Sherlock Holmes herausbrachte. Illustriert war sie von Frederic Dorr Steele, dessen Stil Zeus Weinstein als Sensation feiert: "Der große Detektiv hatte seinen Meister gefunden." ("Sherlock Holmes in Kontur", s.o.)

Der Art-Nouveau-Holmes von Frederic Dorr Steele
blickt hinab in die Reichenbachfälle


Mit Sherlock Holmes Baffled, einem verloren gegangenen Werk von 35 Sekunden Dauer, begann 1900 die bis heute andauernde Leinwand-Karriere des Detektivs, in deren Verlauf er nicht nur eine Vielzahl unterschiedlicher Physiognomien, sondern auch ein breites Spektrum an psychischen Verfasstheiten und familiären Hintergründen durchlaufen sollte. Aus der Vielzahl der Holmes-Interpretation, denen Robert Downey Jr. dieses Jahr als viktorianischer Kampfsportler im neuen Film von Guy Ritchie eine weitere hinzufügen wird, scheinen mir die folgenden fünf nach der Schilderung von Zeus Weinstein ("Sherlock Holmes im Kino", s.o.) die spannendsten zu sein (ohne TV-Produktionen):

Basil Rathbone als Sherlock Holmes in The Hound of the Baskervilles (USA 1939, Regie: Sidney Lanfield) und The Adventures of Sherlock Holmes (USA 1939, Regie: Alfred L. Werker)
Weinstein zählt die beiden Werke (die heute Abend übrigens im Fernsehen laufen, siehe unten) noch heute zu den besten Holmes-Filmen, beklagt allerdings die Darstellung des Dr. Watson: "Der behäbige Daddy auf der Leinwand, den Nigel Bruce nahezu als liebenswerten Trottel gibt (das allerdings gekonnt), kommt bei einem dankbar gackernden Publikum natürlich glänzend an, prägt aber beklagenswerterweise ein schlimmes Watson-Klischee für manche künftige Rollengestaltung."

Basil Rathbone als Holmes

James Hill: A Study in Terror (Großbritannien 1965)
John Neville als Holmes und Donald Houston als Dr. Watson legen in dieser ironisch-modernen Interpretation Jack the Ripper das Handwerk, eine Begegnung zwischen fiktionaler Figur und Fiktion gewordener realer Figur, die schon häufig Anlass zu Spekulationen gegeben hat. Einer der seltenen Besuche von Mycroft Holmes (Robert Morley) bei Sherlock wirft außerdem ein interessantes Licht auf das Verhältnis der beiden Brüder (Drehbuch: Donald und Derek Ford, zitiert nach Zeus Weinstein):
Sherlock: Mein lieber Mycroft, welch’ Überraschung! Watson, den Sherry … Ist dies ein privater Besuch?
Mycroft: Ja, ja, o ja. Rein privat. (Pause) Wie geht es dir?
Sherlock: Sehr gut. (Pause) So, da das Private jetzt erledigt ist, können wir ja zur Sache kommen.

Billy Wilder: The Private Life of Sherlock Holmes (GB/USA 1970)
Robert Stephens als Holmes rechnet mit seinem Chronisten Dr. Watson (Colin Blakely) ab: "Sie schreiben, ich sei ein Frauenhasser. In Wirklichkeit habe ich nichts gegen Frauen, ich traue ihnen nur nicht über den Weg. Hier ein Lächeln, da eine Prise Arsen in die Suppe." Christopher Lee gibt einen imposanten Mycroft. "Verhaltene Spannung erzeugen: eine Spionin des Kaisers, eine Trappistentruppe, eine Schar Liliputaner, eine Menge Kanarienvögel, eine Primaballerina und das Ungeheuer von Loch Ness." (Zeus Weinstein)

Anthony Harvey: They Might Be Giants (USA 1971)
Interessant nicht nur wegen George C. Scott als Holmes und der schönen Idee, den Detektiv zum Studienobjekt der Psychologin Doktor Mildred Watson (Joanne Woodward) zu machen, sondern auch wegen diesem Satz, der sehr genau Holmes’ Verhältnis zu seinem Erzrivalen Moriarty beschreibt: "Es sind keinerlei Spuren vorhanden – das deutet klar auf Professor Moriarty hin."

Herbert Ross: The Seven-Per-Cent Solution (USA 1976)
Toll besetzt mit Laurence Olivier als Professor Moriarty, Robert Duvall als Dr. Watson und Nicol Williamson, der Sherlock Holmes als von Ängsten zerrüttetes Wrack gibt. Weinstein: "Dieser intelligente Film von Herbert Ross, nach dem gleichnamigen Roman von Nicholas Meyer (der auch das Drehbuch schrieb), ist, unserer bescheidenen Meinung nach, der Glanz- und Höhepunkt der Kinokarriere des großen Detektivs."

Mit dem Roman The Lost World schuf Arthur Conan Doyle 1912 noch ein weiteres Werk, das nicht nur einige Male verfilmt werden sollte, sondern einen großen Einfluss auf die Populärkultur des 20. Jahrhunderts hatte. Ohne die Geschichte um die Abenteuer von Professor Challenger und sein Expeditionsteam, das auf einem Plateau im Amazonas-Urwald auf Affenmenschen und Saurier trifft und ein Exemplar mit nach London bringt, wären King Kong (1933) und die Jurassic Park-Filme gar nicht denkbar. Erstaunlich ist an diesem Werk nicht nur sein bis heute funktionierender erzählerischer Witz, sondern auch Doyles geschickter Einsatz von Materialien wie Fotos, Zeichnungen und Karten, die die Faktentreue des Berichts belegen sollen. Wunderbar ist vor allem das dem Roman vorangestellte Foto vom Expeditionsteam, für das Doyle selbst in die Rolle des affen-ähnlichen Challenger schlüpfte.


Arthur Conan Doyle taucht auch am Anfang der ersten Verfilmung von The Lost World von 1925 auf, diesmal nicht als Figur, sondern als fröhlich lachender Schöpfer eines mittlerweile zu Weltruhm gelangten Werkes. Der Film von Harry O. Hoyt war damals mit einer Million Dollar Kosten die teuerste Produktion ihrer Zeit, was auch an den aufwendigen Tricksequenzen lag, für die Willis O'Brien verantwortlich zeichnete. O’Brien war der erste der großen Stop-Motion-Künstler der Filmgeschichte, der vor allem für seine Arbeit an King Kong berühmt wurde und auf den sich bis heute alle Größen der handgemachten Animation beziehen. Der letztes Jahr verstorbene Stan Winston, der die Animatronic-Saurier der Jurassic Park-Reihe schuf, sagte einmal: "Our creature animation basically descends from The Lost World of 1925. Willis O'Brien is our great pioneer." In einem schönen Interview (anlässlich eines Buches, das ich sehr gern auf meinem Coffee Table liegen hätte), erinnert sich Ray Harryhausen an sein Vorbild und Mentor Willis O'Brien und ein Film-Projekt, aus dem leider nichts geworden ist: "While Obie was at MGM he also had some ideas for the Marx Brothers. He wanted to have these three big Pelicans carry the Marx Brothers in their sacks and have them crash land on an island in the Pacific. He made many drawings for that, but I don’t know what happened to them."

Nicht verschwunden, sondern auf wundersame Weise wieder aufgetaucht sind einige Animations-Outtakes von The Lost World, Stop-Motion-Szenen, die für den eigentlichen Film nicht verwendet wurden und die sich jetzt auf der vor Kurzem erschienenen DVD des Werkes bewundern lassen. Der magische Zauber dieser Sequenzen von äsenden und durch die Landschaft ziehenden Sauriern besteht nicht nur darin, dass man an einigen Stellen kurz die Animatoren auftauchen sieht, sondern auch an der vollkommenen Freiheit von narrativem Kontext. Fast hat man den Eindruck, dokumentarische Aufnahmen echter Saurierrudel zu sehen, die hier ganz für sich selbst sind, unberührt von menschlicher Erkenntnis- und Unterhaltungslust.



Wie gut er die Lust der Menschen an der Verzauberung und Unterhaltung durchschaute und diese Kunst beherrschte, stellte Arthur Conan Doyle noch einmal 1922 beim Jahrestreffen der Society of American Magicians unter Beweis, zu der ihn sein Freund Harry Houdini eingeladen hatte. Doyle befand sich damals gerade auf einer Lesetour durch die USA, um die Sache des Spiritismus voranzubringen, dessen Anhänger er in den letzten Jahren seines Lebens geworden war. Doyle war skeptisch, da er befürchtete, von den versammelten Magiern durch den Kakao gezogen zu werden, sagte aber schließlich doch zu – und brachte einen eigenen "Trick" mit. Am Ende der Darbietungen, als sich die Magier schon gegenseitig mit ihren Illusionen überboten hatten, wurden ein Projektor und eine Leinwand im Saal aufgebaut, Doyle erklärte, dass er zu den folgenden Bilder keine Fragen beantworten würde, und das Licht ging aus. Was folgte, hatten weder die Magier noch sonst jemand auf der Welt zuvor gesehen. Am nächsten Tag schrieb die New York Times:

DINOSAURS CAVORT IN FILM FOR DOYLE

SPIRITIST MYSTIFIES WORLD-FAMED MAGICIANS WITH PICTURES OF PREHISTORIC BEASTS--KEEPS ORIGIN A SECRET--MONSTERS OF OTHER AGES SHOWN, SOME FIGHTING, SOME AT PLAY, IN THEIR NATIVE JUNGLES

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Freitag (Nacht zum Samstag), 22. Mai, 0.15 Uhr, ZDF: Die Abenteuer des Sherlock Holmes, danach um 1.35 Uhr Der Hund von Baskerville

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