30 August 2009

Der letzte Puritaner

Je mehr fleißige Literaturredakteure und freie Journalisten sich durch Ulrich Blumenbachs Übersetzung von David Foster Wallaces Infinite Jest lesen, desto länger wird James Incandenzas berüchtigtes Snuff Movie, bei dem nicht die Akteure sterben, sondern die Zuschauer. Das Schöne an Wallaces Erfindung eines Films, den keiner beschreiben kann, weil ihn niemand überlebt, besteht darin, das gerade sein Mangel an Verfügbarkeit ihn tausendfach reproduziert, über den Umweg der Schrift und der Imagination. Welches unendliche Vergnügen ist darauf abgebildet? Oder vielmehr: Worin besteht das unendliche Vergnügen, ihn zu sehen?

Das wunderbar Anachronistische am 1996 erschienenen Infinite Jest ist, das sich in ihm das ultimative Entertainment-Produkt auf einem Medium manifestiert, für das es heutzutage kaum noch Abspielgeräte in deutschen Wohnstuben gibt: die gute alte abgenudelte Videokassette. Darin spiegelt sich zum einen die Entstehungszeit des Romans in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren, als Videorekorder noch immer die dominierende Form des Home Entertainment darstellten. Und es spiegelt sich in Wallaces Wahl auch noch ein wenig der bürgerliche Horror vor diesem Medium, dessen geheimes Herz die Porno- und Horrorabteilungen der Videotheken waren. (Nebenbei gefragt: Haben/Brauchen DVD-Theken heutzutage eigentlich noch "Nur ab 18"-Abteilungen? Ist diese letzte große Hürde [neben dem Zurückspulen] des Hardcore-Entertainments, das leidige Befingern der gleichförmigen Waren im Regal, das Ausleihen am Tresen, nicht längst obsolet geworden, wie das Shoppen in Kaufhäusern?) Mein persönliches VHS-Tape mit "unendlichem Spaß" stelle ich mir jedenfalls als ein Endlos-Loop vor aus Kay-Parker-Blowjobs und Lucio-Fulci-Splatter.

Wäre Infinite Jest zehn Jahre später entstanden, hätte Wallace sich vielleicht für das Internet als todbringendes Medium entschieden. Dort ist die Idee eines Entertainments in Permanenz, einer sich selbst fütternden Aufmerksamkeitsmaschine, die keiner menschlichen Partizipation mehr bedarf, in verschiedenen Ausformungen längst realisiert. Wenn ich von der für mich größten Verlockung ausgehe, sehe ich Unendlichen Spaß am ehesten in Blogrolls manifestiert. Abonniert man genug Feeds, funktionieren diese wie ein Endlos-Laufband der Attraktionen. Es lässt sich bestimmt auch ein Programm entwickeln (vielleicht gibt es das schon?), das neue Blogs/Feeds, die in der Blogroll zweimal auftauchen, automatisch dazuabonniert, sodass ein Perpetuum mobile der maßgeschneiderten Texte und Bilder entsteht. Aus Angst, wie eine dauergedopte Wallace-Figur permanent sabbernd vorm Monitor abzuhängen, werde ich mir niemals eine Blogroll einrichten. The Wayward Cloud würde dadurch völlig unmöglich werden.
Mr. Harold Hecuba, whose magazine job entails reviewing dozens of adult releases every month, has an interesting vignette about a Los Angeles Police Dept. detective he met once when H.H.’s car got broken into and a whole box of Elegant Angel Inc. videotapes was stolen (a box with H.H.’s name and work address right on it) and subsequently recovered by the LAPD. A detective brought the box back to Hecuba personally, a gesture that H.H. remembered thinking was unusually thoughtful and conscientious until it emerged that the detective had really just used the box’s return as an excuse to meet Hecuba, whose critical work he appeared to know, and to discuss the ins and outs of the adult-video industry. It turned out that this detective – 60, happily married, a grandpa, shy, polite, clearly a decent guy – was a hard-core fan. He and Hecuba ended up over coffee, and when H.H. finally cleared his throat and asked the cop why such an obviously decent fellow squarely on the side of the law and civic virtue was a porn fan, the detective confessed that what drew him to the films was "the faces," i.e. the actresses’ faces, i.e. those rare moments in orgasm or accidental tenderness when the starlets dropped their stylized "fuck-me-I’m-a-nasty-girl" sneer and became, suddenly, real people. "Sometimes – and you never know when, is the thing – sometimes all of a sudden they’ll kind of reveal themselves" was the detective’s way of putting it. "Their what-do-you-call … humanness." It turned out the LAPD detective found adult films moving, in fact far more so than most mainstream Hollywood movies, in which latter films actors – sometimes very gifted actors – go about feigning genuine humanity, i.e.: "In real movies, it’s all on purpose. I suppose what I like in porno is the accident of it."

Hecuba’s detective’s explanation is intriguing, at least to yr. corresps., because it helps explain part of the deep appeal of hard-core films, films that are supposed to be "naked" and "explicit" but in truth are some of the most aloof, unrevealing footage for sale anywhere. Much of the cold, dead, mechanical quality of adult films is attributable, really, to the performers’ faces. These are the faces that usually appear bored or blank or workmanlike but are in fact simply hidden, the self locked away someplace far behind the eyes. Surely this hiddenness is the way a human being who’s giving away the very most private parts of himself preserves some sense of dignity and autonomy – he denies us true expression. (You can see this very particular bored, hard, dead look in strippers, prostitutes, and porn performers of all locales and genders.) But it’s also true that occasionally, in a hard-core scene, the hidden self appears. It’s sort of the opposite of acting. You can see the porn performer’s whole face change as self-consciousness (in most females) or crazed blankness (in most males) yields to some genuinely felt erotic joy in what’s going on; the sighs and moans change from automatic to expressive. It happens only once in a while, but the detective is right: The effect on the viewer is electric. And the adult performers who can do this a lot – allow themselves to feel and enjoy what’s taking place, cameras or no – become huge, legendary stars. The 1980s’ Ginger Lynn and Keisha could do this, and now sometimes Jill Kelly and Rocco Siffredi can. Jenna Jameson and T.T. Boy cannot. They remain just bodies. (Fußnote 14, David Foster Wallace: "Big Red Son", enthalten in der Sammlung Consider the Lobster)
Auch wenn ich den medialen Puritanismus von David Foster Wallace ein Stück weit teile, bin ich mir nicht so sicher, ob die Hoffnung auf eine echte emotionale Verbindung zwischen Porno-Darsteller und Zuschauer, die Wallace in seiner großartigen Pornbiz-Reportage "Big Red Son" zum Ausdruck bringt, nicht ein bisschen naiv ist. Diese Hoffnung lebt gegen jedes bessere Wissen des Autors davon, dass Spiel der medialen Oberflächen an einer Stelle willkürlich zu unterbrechen und zu behaupten, dass hier das sonst unter Ironie und Selbstreflektion verborgene Reale sichtbar werde. Die Interpretation der Porno-Gesichter lässt sich auch umdrehen, das glückselige, lustvolle Lächeln, das auf ihnen zutage tritt, als seltener Moment des gelungenen Spiels und der wahren Simulation interpretieren.

Die Hoffnung auf eine direkte, ehrliche Kommunikation zwischen Bilderproduzent und -Konsument, zwischen Autor und Leser durchzieht das gesamte Werk von Wallace. Letztlich ist er ein Romantiker alter Schule, ein Postmoderner wider Willen, dessen Texte Versuche darstellen, die "falschen", "kommerziellen", "ironischen" Kommunikationsformen, die unser aller Bewusstsein dominieren, durch nahezu exakte sprachliche Reproduktion zugleich zu beschwören und verfremdend durchschaubar zu machen. Diese gigantische Aufgabe der Literatur, der er glaube ich als einziger zeitgenössischer Autor gerecht geworden ist, hat er in dem frühen Essay "E Unibus Pluram: Television and U.S. Fiction" auf den Begriff der "Image-Fiction" gebracht. Anhand seiner Erzählung "Little Expressionless Animals" aus dem Kurzgeschichtenband Girl With Curious Hair erläuterte Wallace in einem Interview eines der Grundprinzipien der Image-Fiction:
"Im Gegensatz zu TV versucht die Story den Leser daran zu erinnern, dass er die Begebenheiten nicht direkt erfährt, dass der Prozess des Lesens eine Beziehung zwischen dem Bewusstsein des Autors und des Lesers herstellt, die, um zu einer vollständigen menschlichen Beziehung zu werden, seine aktive linguistische Mitarbeit erfordert."
Auch in seiner Konzeption des Lesens, die die Früchte der Lektüre ernsthafter Literatur mit der Arbeit ins Verhältnis setzt, die in sie investiert wird, zeigt sich David Foster Wallace als Puritaner. Allerdings, und ich glaube, das macht sein Werk so endlos faszinierend, ein Puritaner mit einer seltenen Gabe zu unterhalten und zu amüsieren. Vielleicht war Wallace einfach zu gut darin, die von ihm geliebten und zugleich gehassten Entertainment-Formate bis in die letzte tonale Nuance zu reproduzieren. (Darin erinnert er mich ein wenig an Heino Jaeger, einen deutschen Meister der eidetischen Wiedergabe von sprachlichen und visuellen Eindrücken, der auch an Depressionen litt und viel zu früh starb). Es muss Wallace eine furchtbare Mühe gekostet haben, in seinem eigenen Bewusstsein immer wieder die Stimme der aufklärerischen Rationalität vom babylonischen Geschwafel tausender Anchormen der guten Laune zu unterscheiden.

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Tipp für David-Lynch-Fans: Dass David Foster Wallace ein glänzender Beobachter war, zeigt seine schöne Reportage "David Lynch Keeps His Head", die 1996 in der September-Ausgabe des Premiere-Magazins erschien. Wallace berichtet vom Lost Highway-Set, beobachtet Lynch beim Ketterauchen und Pinkeln an Bäume und macht sich Gedanken über das Böse in Lynchs Filmen – sehr schlau, sehr puritanisch.

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