01 April 2010

Miyazakis Gefüge

Über Hayao Miyazakis Porco Rosso (1992), mit Deleuze

Wenn man Gilles Deleuze lang genug beim Buchstabieren seiner Ideen und Begriffe zusieht und -hört, beginnen sie, das eigene Denken und Wahrnehmen angenehm zu kapern. Als ich gestern Abend Hayao Miyazakis Porco Rosso zum ersten Mal sah, war mir gleich klar, es mit einem durch und durch Deleuzianischen Werk zu tun zu haben. Der Film bildet das Gefüge eines vom Unterbewusstsein produzierten Wunsches, in dem die verschiedensten Elemente einen utopischen Traum vom Werden bilden. Als da wären: ein in ein Schwein transformierter Pilot mit einem Bogey-Trenchcoat, der mit seiner roten Maschine Luftpiraten jagt. Ein amerikanischer Flieger-Dandy, der vom Kino träumt und später Präsident werden möchte. Frauen, die in einer Werkshalle an einem Spezialflugzeug basteln, während ihre uniformierten Männer sich für den Krieg rüsten. Ein faschistisches Italien, in dem für Schweine und Piraten und Ausländer kein Platz ist. Kinder, die riesige Maschinengewehre verkaufen. Eine Frau, die ihr Herz an ein Schwein verloren hat und abends in der Bar den Luftkapitänen mit ihren Chansons den Kopf verdreht. Eine 17-Jährige, die einen neuartigen Kontrollmechanismus gebaut hat und keine Angst kennt.

Das Tier und die Kinder: Porco Rosso

Die Kinder haben nie Angst in Miyazaki-Filmen. So lässt sich ihr Kind-Sein definieren: Die Neugier ist immer größer als die Furcht. Am Anfang von Porco Rosso entführen Piraten eine Schulklasse von 15 Mädchen, die voller Begeisterung an Bord springen, zwischen den Waffen herumturnen, sich lachend an die feuernden Geschütze hängen, den Freibeutern an den Bärten ziehen und die Totenkopf-Malereien bewundern. Später wird die Mechanikerin Fiona, mittlerweile Porco Rossos Kopilotin, eine ganze Horde wütender Piraten mit wenigen Worten zur Räson bringen und sich selbst als Preis in einem Luftkampf anbieten. Die Kinder bei Miyazaki denken deterritorial, nicht von ihrer eigenen Position aus, auf ihre Sicherung bedacht, sondern vom Horizont her, vom Anderen ausgehend, seine Position einnehmend, neugierig eben. In diesem deleuzianischen Sinne sind sie immer links, nicht rechtskonservativ, sondern im Werden begriffen, im Kind-Werden. Das Kind-Werden, das zeigen Miyazakis Kinderfilme, die beim Betrachten immer etwas anderes werden, sehr schön, ist kein Erwachsenwerden, sondern im Gegenteil ein Ausbreiten der Wahrnehmung, der Empfindung, der Empathie auf alles, Dinge und Wesen, Fremde und Alte, Männer, Frauen, Tiere, Waffen und Dämonen. Miyazaki-Filme sind keine Initiationsgeschichten Heranwachsender, sondern im Gegenteil Übungen im Kind-Werden, in einer universalen Neugier ohne Territorium.

Oder man wird Tier, so wie Porco Rosso. Die Geschichte vom verzauberten Prinz, der durch einen Kuss erlöst wird, zieht sich als Subtext durch den Film, wird aber nicht zu Ende erzählt. Porco Rosso, das macht Miyazaki unmissverständlich klar, leidet nicht unter dem Fluch der Transformation in ein anderes Wesen, er ist dieses Wesen geworden oder besser: Er ist in der Tier-Werdung begriffen. „Lieber Schwein als Faschist“, sagt er an einer Stelle, aber man kann das auch verallgemeinern: lieber Schwein werden als Mensch sein. Nicht Teil einer Nation, einer Bewegung, einer Gemeinschaft sein, sondern allein bleiben, jenseits der Grenzen, über den Wolken, auch das heißt Tier-Werden. Und genießen: die Frauen, den Wein, die Gefahr, den Wind, die Einsamkeit.

Bei Miyazaki gibt es immer Bilder der Arbeit. Fabriken und Manufakturen. Sofern Städte und Vergesellschaftung auftauchen in seinen Filmen, sind sie immer im frühkapitalistischen Stadium, in dem man die Arbeit noch sehen kann, von Händen gemacht, arbeitsteilig. Zu den erstaunlichsten Sequenzen in Porco Rosso gehören die aus der Werkstatt eines Mailänder Flugzeugingenieurs, in der ausschließlich Frauen nach den Konstruktionsplänen eines jungen Mädchens eine neue Maschine bauen. Ihre Männer sind in der Luftwaffe der Faschisten, die Frauen bauen dem anarchistischen Schwein ein Flug- und Fluchtgerät. Vielleicht sieht so das Unbewusste aus, kein Freudsches Schmierentheater, auf dessen Bühne Papa und Mama auf ewig kopulieren, sondern eine Fabrik, in der Neues hergestellt wird und Wünsche Gestalt annehmen.

Porco Rosso ist ein Fest der Deterritorialisierung. Außer in Mailand spielt sich die ganze Handlung auf einer Vielzahl kleiner adriatischer Inseln ab, Piratennester, Rückzugsorte, L’Archipels Fantome. In diesem weder lokalisierbaren noch kartografierbarem Atoll haben sich alle Figuren zusammengefunden, die nichts sein, sondern alles werden wollen (Kind, Tier, Frau; heterosexueller, erwachsener Mann, so Deleuze, kann man nicht werden, nur sein), Spelunkensängerinnen, Piraten, Dandys, Schweine, Gesindel. Obwohl sie gegeneinander kämpfen, ist klar, dass sie zusammengehören, nicht im Sinne einer Gemeinschaft, sondern eines Rhizoms, eines Netzwerks. Ein Traum.

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