08 Mai 2010

Ein Arzt, wie er nicht sein soll

Anmerkungen zum Wahren, Schönen und Guten auf Zelluloid anlässlich der Reihe Bizarre Cinema #7
>> #6 Reel Animals // Grizzly & Tierhorror
>> #5 Guter schlechter Film // Stanley
>> #4 50 Tote! // Assault on Precinct 13
>> #3 Penetra-, Muta-, Deformationen // Brian Yuzna
>> #2 Wo dein Geld ist // Blutiger Freitag
>> #1 Join Us // Evil Dead


Eine kleine Typologie des Mad Doctor

Gewagte Schnitte sind ein verbindendes Element von Bizarre Cinema und der avancierten medizinischen Arbeit am Körper. Regisseure wie Lucio Fulci, die einen herabfallenden Körper nicht nur aus der Distanz filmen, sondern auch in brutal hineinmontierten Großaufnahmen zeigen, was Felsen mit einem menschlichen Gesicht anstellen können (Don’t Torture a Duckling, 1972), besitzen ebenso viel Forschergeist wie Dr. Herbert West und seine Kollegen, die Fledermausflügel an Köpfe nähen (Bride of Re-Animator, Regie: Brian Yuzna, 1990). Film und Medizin beeinflussen sich gegenseitig in ihrer visionären Suche nach dem neuen Fleisch, bei ihren Versuchen, den menschlichen Körper zu verschönern, zu verbessern, wiederzubeleben, zu kontrollieren und länger haltbar zu machen. Dabei haben sich ein paar Forschungszweige herauskristallisiert, die hier kurz vorgestellt werden sollen.


1. Re-Animation. Forschungszweck: Wiederbelebung toter Wesen, als Ganzes oder durch Zusammenfügen verschiedener Teile. Berühmte Vertreter: Victor Frankenstein, Herbert West (Re-Animator, Bride of Re-Animator). Der Sieg über den Tod, das ist der älteste und zugleich beängstigendste Traum der medizinischen Zunft. Ein Problem dieses Zweigs ist das des Zugangs zu Forschungsobjekten: Leichen gibt es zwar viele, sie sind aber schwer zu besorgen. Folge ist meist die eine oder andere Form von Beschaffungskriminalität, oft durch Grabraub, manchmal auch, indem der Mad Doctor einen Lebenden zum Tode befördert, um ihn dann zurückholen zu können. Gelingt das Experiment, taucht das nächstgrößere Problem auf, das Zombie-Phänomen: Der wiederbelebte Körper enthält nicht unbedingt eine wiederbelebte Seele. Meist ist der gesamte zivilisatorische Sublimationsapparat des Menschen an der Schwelle zwischen Tod und Leben hängengeblieben, übrig bleiben aggressive Trieb-Monster, die lediglich auf den einen oder anderen Primärreiz reagieren. Die gestörte Balance zwischen körperlichen Trieben und regulierendem Bewusstsein ist das zentrale Problem aller Mad Doctors.


2. Plastische Chirurgie. Forschungszweck: Wiederherstellung der äußerlichen Hülle des Körpers nach schweren Unfällen/Verletzungen. Berühmte Vertreter: Dr. Genessier (Les yeux sans visage, Regie: Georges Franju, 1960), Dr. Keloid (Rabid, Regie: David Cronenberg, 1977). Wie bei den Re-Animatoren gibt es auch bei den Transplantatoren ein Beschaffungsproblem, denn irgendwoher muss die neue, zarte Haut ja kommen. Dabei sind zwei Lösungen zu unterscheiden: Erstens kommt das Material vom zu operierenden Patienten selbst, wie in der Klinik des Dr. Keloid, der „morphogenetisch neutralisiertes“ Eigengewebe verpflanzt. Zweitens kommt das Material von nicht immer freiwilligen Fremd-Probanden, wie bei Dr. Genessier, der seiner durch einen Unfall verunstalteten Tochter ein neues Gesicht modellieren möchte, weshalb seine Assistentin ständig neue Studentinnen beschaffen muss. Fremdmaterial ist nicht nur schwer zu beschaffen, es wird auch häufig abgestoßen, wie bei Dr. Genessier, oder es entwickelt ein Eigenleben (wie etwa im Subgenre der „transplantierten Mörderhände“: Orlacs Hände, The Beast with Five Fingers, Mad Love). Eine andere Gefahr sind Mutationen und das Auftauchen neuer Körperteile wie in Rabid.


3. Vivisektion/Re-Kombination. Forschungszweck: Schöpfung hybrider Wesen. Berühmter Vertreter: Dr. Moreau. Gott spielen tun alle Mad Doctors ein bisschen, aber nicht in so großem Maßstab wie die Vertreter dieser Gattung. Moreaus erklärter Wunsch, die Biester seiner Insel etwas menschenähnlicher zu machen, verhüllt kaum die darunterliegende Ambition, Herrscher über die eigene Schöpfung zu sein. Hauptproblem dieser Forschungsrichtung ist vor allem der große Raumbedarf. Eine abgelegene Insel muss es schon sein.


4. De- und Rematerialisierung. Forschungszwecke: Unsichtbarkeit und/oder Teleportation organischer Materie. Berühmte Vertreter: Sebastian Caine (Hollow Man, Regie: Paul Verhoeven, 2000), Seth Brundle (The Fly, Regie: David Cronenberg, 1986). Dieser Forschungszweig ist am weitesten von der klassischen Humanmedizin entfernt, Kenntnisse in der Molekularphysik und Biochemie sind von Vorteil. Vielleicht weil ihnen die Patientenbasis fehlt, arbeiten die Wissenschaftler in diesem Bereich gern am eigenen Leib. Wie so häufig bei Experimenten am Körper führt seine radikale Transformation zu einer zivilisatorischen Regression, sodass den Unsichtbaren Männern meist nichts Besseres einfällt, als sich materiell zu bereichern und sich an sichtbaren Frauenkörpern zu delektieren. In seiner reinsten Form zeigt sich der durch den technischen Fortschritt bedingte Atavismus in der Gestalt der Brundlefly, eine monströse Mahnung an die Macht des Zufalls, der auch in den kontrolliertesten Versuchsanordnungen der modernen Medizin Einzug hält.


5. Brainfucking. Forschungszweck: psychische Optimierung des Menschen, Befreiung von psychologischen und sozialen Zwängen. Berühmte Vertreter: Dr. Jekyll, Dr. O’Blivion (Videodrome, Regie: David Cronenberg, 1983). Die unschöne Nebenfolge der meisten Körper-Experimente der Mad Doctors, Desublimation und Freisetzung niederer Instinkte, ist das erklärte Hauptziel dieser Forschungsrichtung. Was Dr. Jekyll eher zufällig gelang, ist vor allem für die Ärzte in vielen David-Cronenberg-Filmen das Hauptanliegen: totale Enthemmung im Sinne einer Re-/Deprogrammierung „schädlicher“ zivilisatorischer Muster. Ob die Sex-Parasiten des Dr. Emil Hobbes (Shivers, 1975), Dr. Hal Raglans Psychoplasmics, mit denen man seine Ängste und Begierden materialisieren lassen kann (The Brood, 1979), oder der per TV-Signal verabreichte Brainwash des Brian O’Blivion, im Zentrum dieser Experimente steht immer die (sexuelle) Befreiung des Menschen aus den Fesseln der Vernunft, was gemäß der Dialektik aller Mad-Doctor-Filme zu einer noch gnadenloseren Unterwerfung unter die Knute des (neuen) Fleisches führt.

Die zwei frühesten Beispiele jener architektonischen Funktionsbauten aus unverputzem Beton, in denen David Cronenberg und seine Mad Doctors nach dem „neuen Fleisch“ suchen, sind die Canadian Academy for Erotic Inquiry (Stereo, 1969) und das House of Skin (Crimes of the Future, 1970). Nie wieder kamen die Versuchsanordnungen von Wissenschaftler und Regisseur so perfekt zur Deckung wie in diesen beiden Frühwerken Cronenbergs. In beiden Filmen wurde auf Narration und Dialoge verzichtet, stattdessen herrscht ein kühl-wissenschaftlicher Blick, der sich vor allem für die Bewegung der Probanden durch den sie umgebenden Raum interessiert und den Cronenberg mit der Beobachtung eines Aquariums vergleicht. In Stereo folgt dieser Blick sieben Testpersonen, die durch operative Entfernung ihres Sprachvermögens und soziale Isolation telepathische Fähigkeiten entwickeln sollen, in Crimes of the Future geht es um das durch neuartige Kosmetika ausgelöste weltweite Aussterben aller geschlechtsreifer Frauen. In beiden Filmen begleitet eine wissenschaftliche Objektivität suggerierende Off-Stimme die aus dem Ruder laufenden Experimente, deren Versprechen eines neuen Menschen in radikaler Dehumanisierung endet.

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Samstag, 15. Mai, 21 Uhr, B-Movie:
Bizarre Cinema Double Feature mit Re-Animator & Bride of Re-Animator

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