13 Januar 2013

Das Jahr, das war

Das Gute und das Schlechte, das Bizarre und das Alberne, das Neue und das Alte: Drei Mitstreiter von Bizarre Cinema blicken auf das vergangene Kinojahr zurück.

**************************************

Peter Clasen

Tops 2012:

Madagascar 3: Flucht durch Europa (Madagascar 3: Europe’s Most Wanted)
USA 2012; R: Eric Darnell; D: Tom McGrath, Conrad Vernon
Computertrick-Abenteuerkomödie in 3-D, ein kleines Meisterwerk: superrasant, mit atemberaubenden Jagden, schwindelerregenden „Stunts“ und auch sonst voller Ideen. Schön auch, dass hier mal nicht die Deutschen auf die Mütze kriegen, sondern die Franzosen aufs Käppi. Am Ende werden sie – mitsamt ihren French Fries – nach Madagascar entsorgt.

Das Bourne Vermächtnis (The Bourne Legacy)
USA 2012; R: Tony Gilroy; D: Jeremy Renner, Rachel Weisz, Edward Norton
Vierter Film der Kinoreihe: ein fast perfekter, kluger, engagierter Actionthriller, ganz auf der Höhe seiner Zeit. Glücklicherweise ohne die Wisch-und-weg-Optik und das Schnitt-Stakkato seiner Vorgänger. Das kritische Thema wird politisch nicht ganz ausdiskutiert, reicht aber aus, um Diskussionen anzufachen. Im Grunde ist der Film einer einzige große Jagd bzw. Flucht. Die lange, mörderische Motorradhatz in Manila setzt dem schließlich noch die Krone auf.

West Is West
GB 2010; R: Andy De Emmony; D: Aqib Khan, Om Puri, Emil Marwa
Ernste Komödie / Witziges Familiendrama: Mannomann, was gewisse Kritiker wieder für einen Scheiß schreiben! Nein, keine (drollige) Culture-Clash-Komödie und auch keine Genre-Fortsetzung zu East Is East (GB 1999), sondern ein einfühlsames, stellenweise ungeheuer rührendes Drama über die schwierige Heimkehr in eine verlassene Heimat bzw. über die Suche nach der eigenen Identität zwischen Herkunft und gewähltem Lebensweg. Die „Aussprache“ der beiden Ehefrauen aus West und Ost, die sich sprachlich überhaupt nicht verstehen, intuitiv aber sehr wohl, ist einfach grandios. Auch handwerklich überragt der Film vieles, was man in letzter Zeit sehen konnte. Wunderschön!

Gefährten (War Horse)
USA 2011; R: Steven Spielberg; D: Jeremy Irvine, Emily Watson, Peter Mullan
Episches Kriegsdrama nach dem Kinderbuch von 1982: Genialer Kniff, ein Tier, das ja national und politisch unverdächtig ist, zur Hauptfigur zu machen, um so fern aller Ideologien und Vorbehalte vom Krieg dreier Völker zu erzählen. Freund und Feind werden nicht eigentlich unterschieden, der gemeinsame Gegner ist der Krieg selbst, seine bestialischen Waffen und Gesetze. Nicht wenige werfen Spielberg inszenatorischen Konservatismus vor, dabei bringt er etwas zurück, was fast vergessen war: den magischen Moment. Gefährten enthält gleich ein halbes Dutzend davon, zum Beispiel: Pferd Joey flieht vor einem Panzer – und reitet schließlich über ihn hinweg. Eigentlich kann man Spielberg nicht genug dafür preisen.

Zorn der Titanen (Wrath of the Titans)
USA 2012; R: Jonathan Liebesman; D: Sam Worthington, Liam Neeson
Fantasy-Actionabenteuer: Was begeistert, ist weniger der Plot, als vielmehr der enorme visuelle Einfallsreichtum, die ziemlich echt wirkende Umsetzung und die dynamische Erzählweise. Mehrere Set-Pieces reizen die Möglichkeiten bis zum Exzess aus – grandios sind zum Beispiel Perseus’ Kampf gegen das zweiköpfige, feuerspeiende Höllenmonster sowie der gigantische Kronos, der sich als flüssiges Lavagestein vom Fels ablöst, um schließlich aus dem explodierenden Krater den Weg auf die Erde zu finden. Von Ray Harryhausen, so lieb er einem war, ist das Lichtjahre entfernt. Fans gucken beides gerne – das Alte und das Neue.

Sinister
USA 2012; R+Co-B: Scott Derrickson; D: Ethan Hawke, Juliet Rylance
Okkultes Horrordrama / Haunted-House-Horror: einer der gruseligsten Filme, die ich je gesehen habe. Selten habe ich mich derart unwohl im Kinosessel gewunden wie eben hier. Krasse Schocks gibt es kaum, das Ganze ist ungeheuer creepy. Stil und Story erinnern mich an thailändische Medienhorrorfilme wie Coming Soon (2008) oder The Screen at Kamchanod (2007), ihrerseits stark beeinflusst vom revolutionären J-Horror à la Ringu (Japan 1998).

Cloud Atlas
BRD / GB / USA 2012; R: Tom Tykwer, Andy Wachowski, Lana Wachowski; D: Jim Sturgess, Ben Wishaw, Halle Berry, Jim Broadbent, Doona Bae, Tom Hanks
Episodisches Esoterik-Epos: Fabulös fabulierendes Megamöchtegernkunstwerk zwischen grimmiger Bedeutungsschwangerei, fast heiliger Selbstergriffenheit (trotz diverser Humoreinschübe) und lustvoll-kindlichem Verkleidungskarneval (Männer als Frauen! Weiße als Gelbe! Hübsche in Hässlich!). Sehr aufwendig, teilweise richtig gut und klug, dann aber auch wieder ganz schön silly. Trotzdem zweimal gesehen und zweimal viel Spaß gehabt. Das große Plus des Films sind die wunderbar flüssigen Übergänge, die thematisch immer begründet sind bzw. motivisch passend – und für einen famosen Sog sorgen.

Safe
USA 2011; R+B: Boaz Yakin; D: Jason Statham, Catherine Chan, Robert John Burke
Actionthriller: Kleiner, ziemlich brillanter Actionklopper mit interessanter Story und vielen glaubwürdigen Details. Die Figuren agieren plausibler als sonst im Genre üblich. Speziell faszinierend sind einige Gesichter: Der einst so geile Robert John Burke gibt mit seiner dünnen, faltigen, ledrigen Schallerfresse einen Top-Bösewicht zur Schau; und der einst so schöne Chris Sarandon, schon in Hundstage mit tragischer (Homo- bzw. Trans-)Sexualität behaftet, gewinnt inzwischen jeden Al-Pacino-Lookalike-Contest.

My Way – Ein Leben für den Chanson (Cloclo)
Frankreich 2012; R: Florent-Emilio Siri; D: Jérémie Renier, Thomas Dufour, Benoît Magimel, Monica Scattini
Biografisches Drama über den französischen Schlagerstar Claude François, dessen Song „Comme d’habitude“ als „My Way“ in der Interpretation von Frank Sinatra ein Welthit wurde. Aufwendig, facettenreich, gut gespielt und toll choreografiert, wenn auch nicht ganz so kunstvoll, poetisch und transgressiv wie das Biopic Gainsbourg – Der Mann, der die Frauen liebte von 2009. Hab mir immerhin am nächsten Tag drei Claude-François-CDs bestellt! Und war bei Erhalt bass erstaunt: Das Original sieht genau so aus wie sein filmischer Wiedergänger – irgendwie süß und irgendwie lächerlich. Kein Wunder, dass man den Typ mit dem toupierten Blondhaar als „Schwuchtel“ verkloppte. Dabei war der manische Frauenvernascher auch mal mit France Gall zusammen!

Flops 2012:

Ghost Rider: Spirit of Vengeance
USA / Rumänien / Türkei 2012; R: Mark Neveldine + Brian Taylor; D: Nicolas Cage, Violante Placido
Horrorfantasy-Actiontrash der ganz doofen Sorte, nach den Marvel-Comics: Überaus mieses, billiges, ödes Sequel in einer 3-D-Fassung ohne sonderliche Wirkung und mit lachhaften Dialogen (Cage: „Na, wenn das so ist, sollten wir besser aufpassen, dass der Junge nicht zum Antichristen wird!“). Ohne eigentliche Grausamkeiten, der Horror- und Gorefaktor bleibt gering. Gerade auch als Werk der Crank-Schöpfer eine herbe Enttäuschung.

Merida – Legende der Highlands (Brave)
USA 2012; R: Mark Andrews, Brenda Chapman
Dunkles Digitaltrickmärchen: Eine krumme Emanzipationsgeschichte, die an mehreren Ecken nicht recht zusammenpassen will. Ein Märchen für Mädchen, auch für deren Mütter, aber Jungs und Männer sind hier nur Karikaturen oder Kleinkinder. Der Detailreichtum und die Gewitztheit bisheriger Pixar-Filme sind hier Fehlanzeige, die Story ist auch nicht wirklich märchenhaft, sondern ein etwas grobes Abenteuer mit bodenständiger, wenig beeindruckender Action. Eine Pest ist die typisch Hollywoodeske „archaisch-lyrische“ Musikuntermalung mit schottischem Dudelsack, irischer Flöte und keltischer Harfe. Unerträglich.

Don – The King Is Back
Indien / Deutschland 2011; D: Shah Rukh Khan, Florian Lukas
Caper-Thriller in Berlin, Abklatsch diverser US-Vorbilder, ohne eigene Handschrift. Lustig ist die Idee, den eher zarten Florian Lukas zum Action-Co-Helden aufzubauen. Wollte in Deutschland aber kaum jemand sehen.

Kochen ist Chefsache (Comme un chef)
Frankreich / Spanien 2012; R+B: Daniel Cohen; D: Michael Youn, Jean Reno
Komödie: Ein Film wie eine Tütensuppe! Figuren, Konflikte und Settings sind althergebracht, sämig-langweilig und ohne jede Raffinesse zusammengewürfelt. Dass die Klischees ganz ernsthaft, ohne jede Ironie und wenig Charme abgehakt werden, macht die Sache besonders traurig. Der Film ist „satt“ und ohne jeden Nährwert. Je länger er nachwirkt, desto übler kommt er mir wieder hoch. Selten war Haute Cuisine derart zum Kotzen.

Wandeukyi // Punch
Südkorea 2011
Nachbarschaftsdrama über einen brutal prügelnden Lehrer, der das aber ganz lieb meint, und einen seiner Schüler, der ein Außenseiter ist. Kranker, schroffer Mist. Ja, für seine Gangsterfilme lieben wir das südkoreanische Kino, aber Gegenwartsdramen wie dieses törnen einen wieder gewaltig ab. Selbst wenn das eine wohl das andere erklärt.

Aktuelle Festival-Entdeckungen 2012:

Out in the Dark
Israel / USA 2012; R: Michael Mayer; D: Nicholas Jacob, Michael Aloni
Schwules Politdrama / Politisches Schwulendrama, beides stimmt: Der Palästinenser Nimr, der illegal die Grenze von Ramallah nach Tel Aviv übertritt, und der gutbürgerliche Israeli Roy lieben sich und wollen zusammenbleiben. Doch der Sicherheitsdienst hat Nimr längst im Visier … Billiges, kleines Digitalfilmdrama, das in Bild und Dialogen immer auf den Punkt kommt, dicht gewebt ist, ungeheuer packt und einem den Atem abschnürt. Den Plot hatten wir schon öfter, aber kaum je so bedrückend wie hier. Speziell bemerkenswert ist die Zeichnung der „liberalen“ Eltern von Roy: Der Vater verklärt die Unterdrückung Palästinas; die Mutter fühlt sich vom Sohn irgendwie belästigt, hält seine Gefühle für schwule „Propaganda“ („Flag Waving“).

My Brother the Devil 
GB 2012; R: Sally El Hosaini; D: James Floyd, Said Taghmaoui
Jugenddrama zweier ägyptisch-stämmiger Brüder in London: Während der Jüngere ins kriminelle Bandenwesen hineinrutscht, versucht der ältere den Ausstieg aus ebenjener Drogengang – und (Spoiler!) verliebt sich in einen französischen Fotografen. Sensationeller, überraschender, absolut kinematografisch gestalteter Film mit lauter feinen Details und ohne falsche Töne – spannend, bewegend, kunstvoll, authentisch. Wie eine homoerotische Variante des tollen dänischen Migranten-in-der-Vorstadt-Dramas 1:1 (2006).

Jenseits der Mauern (Hors les murs)
Belgien / Kanada / Frankreich 2012; R+B: David Lambert; D: Matila Malliarakis, Guillaume Gouix
Schwules Drama: Der junge Paulo ist eigentlich mit Anka zusammen, doch betrunken treibt er’s auch mit Männern. Beim älteren Ilir bleibt er hängen und lebt immer weiter seine schwule Identität mit ihm aus. Als Ilir hinter Gitter muss und die Beziehung beendet, ist Paulo erst verzweifelt, dann lässt er sich mit Grégoire ein, bei dem er seine masochistische Ader entdeckt. Als sich Paolo und Ilir 18 Monate später wieder sehen, wird die gemeinsame Nacht im Hotel zum Fiasko … Eine kleine, traurige Allerweltsgeschichte, die sehr genau beobachtet und sensationell stimmig inszeniert ist. Die permanente, immer extremere Veränderung von Paulo wird überzeugend entwickelt. Selten kam mir ein Dokudrama so echt und authentisch vor. Die Festivaldame meint, der Regisseur habe den Stoff über 15 Jahre lang entwickelt. Man merkt es.

Golden Slumbers (Le sommeil d’or)
Kambodscha / Frankreich 2011
Brillante Doku über die von den Roten Khmer vernichtete Film- und Kinokultur Kambodschas – fast alle 400 Filme, die man dort zwischen 1960 bis 1975 produzierte, wurden zerstört. Faszinierend morbide sind unter anderem die Bilder von Filmpalastruinen, in denen heute Menschen hausen, ganze Familien gar.

Nightfall (Che Sau)
Hongkong 2012; R: Roy Chow Hin-Yeung; D: Nick Cheung, Simon Yam
Kriminaldrama: Der stumme Eugene Wang hat für Mord und Vergewaltigung 20 Jahre hinter Gittern gesessen. Jetzt wird er wieder in die Freiheit entlassen – und stellt einer jungen Frau nach, die er zu lieben scheint. Sie ist die Tochter eines gefeierten Konzertpianisten. Welche böse Wahrheit verbindet beide? Während das einst so vitale Hongkong-Kino immer weiter schwindet, schwingt es sich hier noch einmal zu alter, erschütternd-dramatischer Größe auf. Nick Cheung spielt grandios, zum Ende hin immer anrührender, ein großer Charakterdarsteller!

Bollywood: The Greatest Love Story Ever Told
Indien 2011; R: Rakeysh Omprakash Mehra, Jeff Zimbalist
Dokumentarfilm: Musicalszenen und -schnipsel aus indischen Unterhaltungsfilmen der frühen Tonfilmzeit bis heute, assoziativ montiert zu diversen „Motivkomplexen“ und zusammengefasst in vier Kapiteln. Ein einziger Rausch! Entdeckungen ohne Ende! Reines Kino! Entgegen üblicher Annahmen gibt es dabei auch ein halbes Dutzend Kussszenen.

A Chinese Ghost Story
VR China / Hongkong 2011; R: Wilson Yip; D: Yifei Liu, Louis Koo
Fantasy-Actionspektakel, abgewandeltes Remake des Hongkong-Klassikers von 1987: aufwendig, opulent, ungeheuer dynamisch, mit wilden Kamerafahrten und schrägen Perspektiven – stets mit gutem Auge geführt. Ein visuelles Highlight. In ewigem Gedenken an Leslie Cheung. Ach, Leslie ...

DVD: Detention – Nachsitzen kann tödlich sein
USA 2011; R: Joseph Kahn; D: Josh Hutcherson, Spencer Locke
Highschool-Horrorgroteske: An der Grizzly Lake Highschool geht Cinderhella (ja, mit h!) um, ein axtbewehrter Kinofilm-Serienkiller aus den Neunzigern – erstes Opfer ist die beliebteste aller Schülerinnen. Um die Welt zu retten, müssen die Schüler schließlich ins Jahr 1992 zurück – mit dem ausgestopften Bären als Zeitmaschine. Wow, das knallt! Ultrabunt, ultraschnell, voller Referenzen und Zitate, ein Metafilm über das Slasher-Genre, ein Katalog aller Moden und Entgleisungen der letzten 20 Jahre, ein toller Popfilm mit Namedropping ohne Ende und Superstücken sonder Zahl (leider gibt es keine CD). Ein Muss für alle, die auch Kaboom oder Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt lieben.

Der Überknaller 2012:

Das Wunder des Malachias
BRD 1961; R: Bernhard Wicki; D: Horst Bollmann, Richard Münch, Christiane Nielsen, Günter Pfitzmann, Brigitte Grothum, Karin Hübner, Pinkas Braun, Senta Berger, Charlotte Kerr, Vicco von Bülow
Gesellschaftssatire: Ein göttliches Wunder platzt in die geldgeile deutsche Wirtschaftswunderrepublik, jeder versucht daraus Profit zu schlagen, nur die Kirche hat Skrupel und versucht den moralischen Schaden klein zu halten. Grandioser, teils hysterischer Film, der eigentlich legendär sein müsste, tatsächlich aber allen Fachkollegen unbekannt war. Zwar fehlt der letzte Schliff, um als deutsches Äquivalent zu Fellinis La Dolce Vita oder Buñuels Der Würgeengel gelten zu können, aber der Film ist verdammt nah dran. Die Granden von Politik, Wirtschaft und Kultur kriegen alle bös ihr Fett weg. Der Film ist derart flott, fast atemlos, wie man es sonst nur aus der Hochzeit der Screwball Comedy kennt. Wieso gibt es diese Wunder-Werk nicht auf DVD?

**************************************

The Wayward Cloud

Best of Bizarre Cinema 2012

24.3.2012: Stunt-Special im B-Movie. Nach circa anderthalb Stunden, viele Leiber sind schon von Pferden und Häusern gestürzt, Stürme haben Städte verwüstet, Autos sind durch Canyons geflogen, geht der eh schon ekstatische Abend in eine neue Phase über. Aus Youtube-Schnipseln hat Thorsten Wagner einen Überblick über den türkischen Genrefilm der 70er- und 80er-Jahre geschmiedet, eine Geschichte der radikalen Aneignung, Variation und Überbietung populärer Filme und Figuren des Westens. Schnauzbärtige Rambos schleichen durch anatolische Wälder, ein deformierter E.T. reckt seinen schlecht gekneteten Finger gen Himmel, Panzerfäuste, Kung Fu und nackte Mädchen in Istanbul. Wie eine Traumgeburt steigt aus diesem ungeheuerlichen Bilderdickicht ein Mann hervor, stechend ist sein Blick, hart ist sein Körper, unendlich sind seine Talente: Cüneyt Arkin, der Stunt-Gott vom Bosporus. Nun geht der Film vollends in den Overdrive. Arkin springt von galoppierenden Pferden, rast mit Autos durch Hauswände, kann alle Kampfsportarten, rettet die Frauen, massakriert die Männer. Am Ende, in einer surrealen Sequenz, von der man nicht weiß, ob sie Thorsten Wagner, der Regisseur des Films oder ein Schnittmeister im Himmel montiert hat, wird eine Autoverfolgungsjagd in ihre konventionellen Bestandteile zerlegt und auf nie zuvor gesehene Weise rekonfiguriert. Quietschende Reifen, verzerrte Close-ups schreiender Gesichter, berstende Wände, dampfender Asphalt, splitternde Scheiben: die Möglichkeit einer komplett neuen Syntax des Kinos.

Wayward Cloud Glamour Boy of the Year: Cüneyt Arkin

28.10.2012: Larry Cohens American Monster im Metropolis. Michael Moriarty stiehlt als zwischen Melancholie und Größenwahn schwankender Junkie der Stop-Motion-Flugechse die Schau. Während er ziellos durch die prägentrifizierten Straßen von New York stolpert, schnappt sie sich New Yorker Bürger und brütet ein Riesenei aus. Das liegt in der Kuppel des Chrysler Buildings, die aussieht wie ein gigantischer unaufgeräumter Dachboden, durch dessen unverglaste Fensterrahmen der Wind pfeift. Larry Cohen:
„We were able to rent it from the management because they didn’t know what we were going to do. They didn’t know we would bring actors, cameras and crew all the way up those ladders into that skinny little needle at the top of the building, and that we’d have helicopters flying around, and guys firing machine-gun blanks off the building. When we got up there they were doing repairs, so there were these little metal baskets hanging off the building that steeplejacks work in. (...) We hired the steeplejacks, dressed them up in police uniforms and taught them how to fire a gun, because no normal people will get into those baskets and hang off the side of the Chrysler Building. (...) They fired the machine guns, and of course the shots carried – unfortunately – down into the streets. (...) The Daily News sent over a camera crew and photographers and put a big headline in their paper that said, ,Hollywood movie crew terrorizes New York!‘ Then they wrote an editorial saying, ,It’s time we stop allowing movie companies to come in from Hollywood and frighten our citizens‘ – they said people were running for cover and that old ladies were terrified. Of course it was a total lie. I had a camera crew down on the street to try and get footage of people’s reactions in case there really was a panic, but no one ran away.“

12. bis 15.12.2012: vier tolle Tage mit Zbynek Brynych, Rainer Knepperges und drei Flaschen Becherovka. Man lernt zu sehen bei so einer Retro. Und über Brynych glaube ich begriffen zu haben, dass er eine Idee von Freiheit hatte, des Filmemachens, vor allem aber des Lebens. Ein ganz Großer mit einer Vorliebe für die (Ver-)Formbarkeit des menschlichen Gesichts. Alles war toll, am ergreifendsten aber der tschechische Kurzfilm Misto (1964), hartes Schwarzweiß, grauer Alltag in einem Arbeitslager für Jungs. Einer ragt raus, er will sich nicht anpassen, er singt für sich selbst und sammelt nicht genug Beeren ein, er ist hin- und hergerissen zwischen einem Trio harter Typen, die ganz auf Underdog machen, aber extra früh aufstehen, um ihr Pensum zu schaffen, und einem zarten Sonderling, der gern sein Freund wäre. Am Abend auf der Kirmes lernt er ein Mädchen kennen, in dieser Welt ohne Privatheit können sich Momente der Intimität nur im Gewühl und Lärm der Masse einstellen. Die rauschhafteste Karusselszene der Filmgeschichte, Gesichter flackern auf und verschwinden wieder, die Welt dreht sich immer schneller um das Paar, das vielleicht zueinander findet. Der Schock kommt am nächsten Tag, wenn der verliebte Junge seine Nähe zu dem Mädchen dazu benutzt, Mitglied der Gang zu werden, indem er prahlt, sich prügelt, den Sonderling demütigt, das Mädchen verstößt. Am Ende liegt er in seiner neuen Koje im Schlafsaal, bei seinen neuen Freunden, und Brynych bleibt lange auf seinem Gesicht, das erst glücklich scheint, dann leer wird und traurig, dann wieder heiter und schließlich so traurig wird, dass man es gar nicht mit ansehen kann. Knepperges war sehr gerührt, als er danach vom Wechsel zwischen Profil- und frontalen Ansichten von Gesichtern und der Wiederholung der Musik bei Brynych sprach – keine formalen Spielereien, sondern Elemente einer Metaphysik des menschlichen Daseins, in der sich die selbstvergessene Feier des in Freiheit sich entfaltenden Moments und das Grauen der unerbittlich in Richtung Alter und Erstarrung vergehenden Zeit die Waage halten. Später dann noch Sitting Ducks von Henry Jaglom, von dem ich noch nie etwas gesehen hatte. Ich habe 90 Minuten durchgegrinst, was für eine Freiheit des Filmemachens und Sprechens. Im Publikum saßen Leute mit ganz merkwürdigem Lachen (Wiehern, hysterisches Gackern, heeheehee).

Gute neue Filme

Revision von Philip Scheffner // Ein neues Produkt von Harun Farocki // Heino Jaeger – Look before you kuck von Gerd Kroske // The Human Apocalypse von Kae und Obernuß // Tatort: Der tiefe Schlaf von Alexander Adolph

Gute alte Filme

Vielleicht lag es auch daran, dass, wie immer auf Filmfestivals, schon am zweiten Tag beim Il Cinema Ritrovato in Bologna das Heimweh von mir Besitz ergriff. Jean Gremillons Gardiens de Phare (1929) jedenfalls erwischte mich schon mit seinen ersten Bildern, dem Ablegen eines kleinen Bootes, auf dem ein junger Mann und sein Vater vom Land und den Frauen sich entfernen, um in einem abgelegenen Leuchtturm ihren Dienst zu tun. Die Isolation, das Gefühl der Ferne von der Geliebten, die Hilflosigkeit des Vaters, die Ahnung eines bevorstehenden Unheils, der zunehmende Sturm, das in Gefahr manövrierende Schiff, das pulsierende Leuchtfeuer, alle diese Elemente einer radikal aus dem Lot geratenen Existenz machten mich wieder ganz und fügten sich mir zum schönsten Kinoerlebnis des Jahres. (Sinnvolleres als hier steht hier.) Am letzten Tag dann noch Gremillons Le ciel est à vous (1944), in dem etwas Ungeheuerliches passiert: Ein Ehepaar vernarrt sich durch die gemeinsame Leidenschaft für das Fliegen ein zweites Mal ineinander, und die Familie, die Stadt, die Welt gerät fast aus den Fugen. Das Kino kennt viele romantische, entfremdete, leidenschaftliche, eifersüchtige Paare, aber es kennt kaum einen Mann und eine Frau, die es schaffen, den Zauber und die Ekstase der ersten Tage ihrer Liebe mit einer Mischung aus Freundschaft und Begeisterung für eine gemeinsame Sache Dauer zu verleihen. Mervyn LeRoys Madame Curie (1943) fällt mir noch ein. In einer fantastischen Szene kommt das Forscherpaar Marie (Greer Garson) und Pierre Curie (Walter Pidgeon) eines Nachts in den Schuppen zurück, in dem sie über Jahre schon versuchen, ein unbekanntes chemisches Element zu isolieren. Am Tage zuvor hat es einen weiteren Fehlschlag gegeben, am Boden einer Petrischale, in der die Substanz sich offenbaren sollte, ist nichts zu sehen. Dann, in der Dunkelheit, sehen Marie und Pierre von Weitem schon ein seltsames Schimmern im Hof. Sie öffnen die Tür, und vor ihnen steht die Schale, aus der heraus ein helles Licht den Raum und die Gesichter der beiden Liebenden erleuchtet, die sich mit dem ekstatischen Lächeln glücklicher Eltern in die Arme fallen. Es ist – ein Radium!

Wayward Cloud Glamour Couple of the Year: 
Greer Garson und Walter Pidgeon

Während einer Erkältung in den letzen Tagen des Jahres entdeckte ich Youtube als Filmkanal. Rainer Knepperges hatte mir den Link zu Henry Hathaways Western Rawhide (1951) geschickt, und ich staunte: totale Entschlackung von jedem Pathos, pure Konzentration auf die jeweils zu Verfügung stehenden Optionen. Das Heroische entsteht aus dem Zufall, dem Pech, der Inkompetenz, der Konzentration aufs Detail. Das Kind nicht als Verkörperung der Unschuld, sondern als Handicap. Susan Hayward unter dem Bett. Jack Elam endlich in einer Rolle, die seinem abgründigen Gesicht gerecht wird. Hooray for Hathaway! Zwei tolle Giallos auf Youtube: Mimsy Farmer in The Perfume of the Lady in Black (1974) und Jane Birkin in Seven Deaths in the Cat’s Eyes (1973).

Kurz vor Weihnachten dann noch Donovan’s Reef (1963): der beste aller Wes-Anderson-Filme – gedreht von John Ford.

**************************************

Michael Ranze

Was ist eigentlich von einem Jahr zu halten, in dem – neben dem 2:1 gegen Italien, gesehen und durchlitten ausgerechnet in Italien – der 12. Platz beim Filmquiz im Abaton als größte Katastrophe gelten muss? „Eh, Dude, hast du keine anderen Sorgen?“, höre ich den ein oder anderen Leser seufzen. Aber irgendwie hat dieser Abend des 29. Mai mein Selbstbild als leidenschaftlicher und kenntnisreicher Cineast erschüttert. Was natürlich übertrieben ist, zumal das Filmquiz von Rex Kramer, ob in Hamburg oder Berlin, seinen eigenen Gesetzen gehorcht. Ja – das letzte Jahr war so ein bisschen, wie soll ich’s sagen, unaufgeregt. Was so wiederum auch nicht stimmt. Es ging nämlich gleich fetzig los, mit Devil’s Blood in der Markthalle. „Ritual Metal“ schimpft sich das, obwohl mich das Rituelle – rote Farbe im Gesicht, Räucherstäbchen auf der Bühne, limitierte (und darum sauteure) CDs – gar nicht interessiert. Anyway – die Jungs und das eine Mädel klatschten einem nur so knallhart-swingende Gitarrenriffs um die Ohren. Und das hat verdammt viel Spaß gemacht. Wo wart Ihr eigentlich, als ich beim Konzert von Judas Priest in der Sporthalle war? „Breaking the law, breaking the law“ – wunderbares Motto. Und warum wurde Freund Holger ausgerechnet beim Konzert von Nashville Pussy so schlecht, dass er grußlos das Molotov verließ? Auch wichtig: Jack White im Docks und Leo Kottke, dieser coole Virtuose auf der 6/12-String-Guitar, in der Fabrik.

Das Schöne am Bizarre Cinema ist, dass man sich Filme wünscht, die man immer schon mal gucken wollte. Jemand anderer holt sie dann ran, und ich bin, ohne belastende Kenntnis des Films, für die einführenden Worte zuständig. Eigenartigerweise macht das Spaß, man kann so ein bisschen die Rampensau rauslassen, rumspintisieren, ohne auf die Fakten festgenagelt zu werden, und die Zuhörer an seinen Erwartungen und seiner Neugier teilhaben lassen. Manchmal liegt man daneben, manchmal vergisst man was (Was? Dennis Hopper ist tot?! Und da sagt mir keiner Bescheid!?), manchmal hat man – leider – recht. (So hatte ich zum Beispiel Teuflische Engel als schlechten Film angekündigt – was prompt eintrat). Manchmal, wie bei dem köstlichen Angry Breed, wird man auch positiv überrascht. Sparkassenbeamte, die in ihrer Freizeit als Nazis verkleidet Moped fahren – darauf muss man erst mal kommen. Und dann diese völlig abgefahrene Party. Schöne Erkenntnis bezüglich der Vorträge: Manchmal muss man sich einfach etwas trauen. So habe ich bei Die Nackte und der Satan einfach bei Johannes dem Täufer angefangen und sogar eine Oper, Salome von Richard Strauss, erwähnt und mit Steven Spielberg aufgehört. Und bin damit durchgekommen.

Eine kleine Kulturgeschichte der Enthauptung: 
Michael Ranze präsentiert Die Nackte und der Satan

Auch in diesem Jahr war ich wieder gern unterwegs, Filmfest-mäßig. Russen-Retro in Berlin, Raoul Walsh (und so einiges andere mehr) in Bologna, Preminger in Locarno, Fritz Lang in Wien, Emden (wo ich neben der deutschen Synchronstimme von Meg Ryan das erste EM-Spiel unserer Mannschaft verfolge. „Wollen wir uns nicht duzen?“, höre ich Meg Ryan sagen, weil ich ja woanders hinschaue, nämlich auf die Mattscheibe, und für einen Moment gebe ich mich der Illusion hin, sie sei es wirklich), Oldenburg (wo ich meinen soundsovielten Geburtstag gefeiert habe) – das Jahr war ja doch gar nicht so schlecht. (Ihr merkt, ich taste mich so langsam, während des Schreibprozesses, an eine positive Gesamteinschätzung heran.) Und dann noch 600 Euro bar auf die Kralle, weil mich die KLM in Amsterdam nicht mitgenommen hat nach Montreal und ich darum erst einen Tag später ankomme. Beim dortigen Filmfest habe ich übrigens einfach Nina Grosse, die Regisseurin von Das Wochenende, angequatscht, die genau meinen Humor hat. Als ich ihr von den netten Souterrain-Cafés im Quartier Latin erzählte, meinte sie doch glatt: „Aha, den Mädels unter die Röcke gucken!“ 

Schönstes Ereignis bei einem Filmfest: der Auftritt von Michael Caine in Wien. „Tony Curtis rettete mir das Leben.“ Caine weiß, wie man Dönekes darbringt, und so erwies er sich nach der Uraufführung der restaurierten Fassung von Sleuth, gleich am zweiten Abend des Filmfests gezeigt, eine drei Viertel Stunde lang als genialer Unterhalter, der ganz ohne Allüren wundervolle Anekdoten aus seinem Leben zum Besten gab. Tony Curtis habe ihm Anfang der 60er-Jahre bei einem zufälligen Treffen in einer Hollywood-Bar kurzerhand das Rauchen verboten. Michael Caine gehorchte – und bekam keinen Lungenkrebs.

Nicht missen möchte ich auch die regelmäßigen DVD-Abende mit einem lieben Freund, der eigentlich mit ganz anderen Dinge beschäftigt ist, beruflich und privat. Aber der Film noir, der hat’s ihm angetan, mir auch, und so wälzen wir fachspezifische Lexika (Silver/Ward, unsere Bibel), streichen an, was wir kennen, schreiben Listen mit noch ungesehenen Filmen, schauen, was es bei amazon.com oder sonstwo Neues gibt, bestellen – bis die Post kommt. Diesjähriges Highlight: My Name Is Julia Ross von Joseph H. Lewis (aus der Columbia Film-noir-Classics-Box 3) über eine Frau, der man weismachen will, dass sie jemand anderes sei. Durchaus Bizarre Cinema-würdig, wie ich finde.

Bevor ich es vergesse: Testament hat 2012 eine neue CD gemacht, in der es nur so knallt und scheppert. Und 2012, zu meiner großen Vorfreude, habe ich die Konzerttickets für 2013 gekauft: Im März kommen sie nach Hamburg, eine Woche später sehe ich sie in Berlin. Mehr davon im nächsten Rückblick. Und dann, nicht zu vergessen, Sunken Condos, die neue CD von Donald Fagen mit der wunderschönen Liedzeile: „They may fix the weather in the world, but what’s to be done with the weather in my head.“ Groovy, jazzy, funky.

Für das Kinojahr 2012 gilt, was jedes Jahr gilt, wenn man halbwegs neugierig, fleißig und interessiert bleibt: Aus all dem Wust an Kinostarts lassen sich zwei Dutzend Filme rausfischen, die in eine Bestenliste gehören. Und dieses doppelte Dutzend entschädigt für so manchen Unsinn und so manche Qual. Und hier nun meine persönliche Top Ten 2012, ohne nennenswerte, wahrscheinlich chronologische Ordnung.

Drive 
The Artist 
Dame, König, As, Spion 
Hugo 
Shame 
The Avengers
Moonrise Kingdom 
Holy Motors 
Beasts of the Southern Wild 
Life of Pi 


An 11. Stelle Merida, wegen der roten Haare, über die ich mich an anderer Stelle wie folgt ausgelassen habe: „Schon ihre feuerrote Mähne, die in unzähligen kleinen Locken wie ein Sturzbach über ihre Schultern fällt, reicht aus, um Merida in jeder Szene in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Eine beispiellose Haarpracht, wild und lebendig, widerspenstig und unbezähmbar, unerschrocken und atemberaubend schön – so wie Merida selbst. Die Tochter von König Fergus und Königin Elinor hat ihren eigenen Kopf, und man sieht es sofort. Als die Mutter einmal versucht, dass Haar mit einer Nonnenhaube zu bändigen, springt prompt eine Locke hervor. Merida – das ist, trotz der mythischen Vorzeit, in der der Film angesiedelt ist, eine moderne Amazone, die reiten und schießen kann und den Männern hoffnungslos überlegen ist. So strahlt sie eine Dominanz aus, die zur Verwirrung ihrer Verehrer ihre Attraktivität noch erhöht..“ Wer sagt denn, dass man sich nicht auch in ein computergeneriertes Weib verknallen kann …

Keine Kommentare: